Darf ich aufstehen? Oder: Die Kunst des Brückenschlagens vom Ich zum anderen Ich

Jede Zeit hat ihren Geist. Wir leben in der Zeit des „Jeder macht seins (wann und wie er will)“. Das gilt jedenfalls für die sogenannte westliche Welt. Ergebnis ist der massenhafte Aufwuchs von „Autisten“.

Aber wie soll ein Kind lernen, sich auf den Mitmenschen zu beziehen, wenn es immer darin bestärkt wird, das zu lassen und zu tun, was ihm gerade in den Sinn kommt?

Ein kleines oder kleineres Kind steht auf vom gemeinsamen Frühstückstisch. Die Eltern und Großeltern sind noch mittendrin beim Frühstücken. Die Eltern halten das Verhalten ihres Kindes für normal. „Warum sollen wir ihm aufzwingen, wie lange er sitzen bleibt?“ Nein, das tun sie auf keinen Fall. Im Gegenteil: Wenn er nach ein paar Minuten wieder kommt, fragen sie ihn, ob er noch Hunger hat und bieten ihm das eine oder andere an.

Das Kind lernt, nach innen zu „gucken“, auf seine eigenen „Bedürfnisse“ zu achten. Wirkliche Bedürfnisse sind das aber gar nicht, weil immer, bevor ein wirklicher Hunger beginnen konnte, das Kind schon nach Lust und Laune das gegessen hatte, was es gerade in die Hände bekam. Es richtet sich also nicht nach äußeren Strukturen wie Essenszeiten aus, sondern es erwartet, dass sich „die Welt“ seinen eigenen inneren Befindlichkeiten anpasst.

Dieses Kind hat einen IQ von 80, weil es keinen Intelligenztest bis zu Ende bewältigt, sondern immer schon vorher aufsteht. Wunder, wunder, woher hat es das bloß? Es durfte bei keiner Gelegenheit Ausdauer trainieren müssen, die sich nicht nach inneren Befindlichkeiten richtet, sondern nach äußeren Notwendigkeiten. Aber daran darf es nicht liegen. Es müssen irgendwelche geheimnisvollen Gendefekte sein.

Aber was sollen wir denn machen, wenn er einfach aufsteht und nicht reagiert, wenn wir ihn darauf ansprechen? Ganz einfach: Sie stehen auf, gehen hinter ihm her, ruhig und sicher, fassen ihn an den Schultern, sehen ihn von Antlitz zu Antlitz an. Handelt es sich um die eigenen Eltern oder vertraute Großeltern und ist das Kind noch im Vorschul- oder Grundschulalter, können sie eine enge (Groß)Eltern-Kind-Beziehung Stirn an Stirn und Nase an Nase herstellen und dann langsam und bestimmt sagen: Wenn ich dich rufe, bleibst du stehen und siehst mich an!

Machen das alle Eltern- und Großelternteile, wird das Kind bald lernen, auf seinen Namen zu hören. Katastrophal ist eine schulterzuckende Resignation: Das Kind ist eben nun mal so, es ist quasi „kaputt“, da ließe sich nichts machen. Nonsens! Da lässt sich viel machen. Die behaupten, dass das Kind nun einmal so wäre und sich nicht ändern könne, haben meistens gar nicht versucht, ihm mit langem Atem ein gutes, also mitmenschenbezogenes Verhalten anzugewöhnen:

Es geht gar nicht um dich, ob du jetzt noch Hunger hast oder nicht. Es geht um uns alle. Wir gehören zusammen. Es frühstückt sich viel besser, wenn alle noch am Tisch sitzen und wir miteinander reden können. Du musst ja nichts mehr essen und du musst auch nicht ewig sitzen bleiben, aber nimm‘ bitte Mama oder Papa ernst und frage sie, ob du aufstehen darfst, bevor du es einfach tust.

Dieser Beitrag gehört in die Themenreihe „Zeitzeichen Autismus & Erziehung“. Ihre Grundlage ist Die Grundfrage der Erziehung.

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